Grenzen, Grenzsteine, Grenzkontrollen und Schnadegänge
Seit dem Schengener Abkommen, das nach dem Vertragsort in Luxemburg benannt und am 14. Juni 1985 (Schengen I) abgeschlossen wurde, sind in weiten Teilen Europas die Grenzen beim Wechsel von einem Land in ein Nachbarland oder durch mehrere Mitgliedsländer kaum noch zu erkennen, geschweige denn mit Schlagbäumen oder Grenz- und Zollkontrollen versehen. Am 19. Juni 1990 folgte das „Übereinkommen zur Durchführung des Übereinkommens“ (Schengen II), das nach der Wiedervereinigung Deutschlands am 26. März 1995 endgültig in Kraft gesetzt wurde. Seitdem steht der Name Schengen als Inbegriff für eine unkomplizierte, weil völlig unkontrollierte Reisefreiheit in den meisten europäischen Ländern.
Vor mehreren hundert Jahren und teilweise auch noch im letzten (dem 20.) Jahrhundert war das aber durchaus anders. Da gab es Grenzsteine, Schranken und Grenz- und Zollkontrollen. Eine Form solcher Grenzkontrollen ist der auch heute noch – aus historischen, nostalgischen oder folkloristischen Gründen – in verschiedenen Orten in Westfalen und Hessen sowie in Osnabrück wiederbelebte alte oder schon seit Jahrhunderten bestehende Brauch der Grenzbegehung als so genannter „Schnadegang“. Der Ausdruck leitet sich her von dem Wort „Schnade“, niederdeutsch auch „Snat“ oder „Schnaot“, das verwandt ist mit „schneiden“ und „Schneise“ und „Grenze“ bedeutet. In ländlichen Gegenden markierte man die Grenzen zwischen den Orten oft durch einseitiges Beschneiden der Bäume oder durch Fällen einer oder mehrerer Baumreihen für eine regelrechte „Schneise“. Aber vielfach setzte man Grenzsteine, bei denen auf den beiden den jeweiligen Dörfern zugewandten Seiten das Wappen oder der Name des Ortesoder beides, oft auch zusammen mit einer Jahreszahl, eingemeißelt wurden. Um die Korrektheit der Gemeindegrenze zu kontrollieren, die Grenzmarkierungen freizuschneiden, den unveränderten Standort der Grenzsteine zu überprüfen und Neubürgern die Kenntnis über den Grenzverlauf zu vermitteln, fand eine amtliche Grenzbegehung statt, der Schnadegang, der dann alle ein oder zwei Jahre wiederholt wurde und oft mit einem Volksfest verbunden war.
Vor einigen Jahren veranstaltete der Heimatverein Berghofen e.V. mehrere geführte Wanderungen entlang der Berghofer Grenzen zu seinen Nachbarorten, darunter Benninghofen, Schüren und Schwerte. Dabei war der Schnadegang entlang der Grenze zur Nachbarstadt Schwerte besonders interessant, weil dort im Wald und in der Landschaft noch Hinweise auf den Grenzverlauf sichtbar sind. So ist die Grenze als Verbindungslinie zwischen der Berghofer Straße und dem Maulwurfsweg in der Berghofer Mark in west-südwestlicher Richtung durch einen Grenzgraben größtenteils auch heute noch gut zu erkennen.
Darüber hinaus wird die Grenze deutlich augenfälliger durch die im Berghofer Wald (und natürlich im angrenzenden Schwerter Wald) noch vorhandenen alten Grenzsteine. Sie tragen auf der einen Seite die Inschrift „Grenze der Stadt Schwerte 1798“ und auf der anderen, auf „unserer“ Seite den Text „Haus Berghoven 1798“.
Somit sind diese Grenzsteine über 220 Jahre alt! Sie markierten die Grenze zwischen dem adeligen Landbesitz der Herren von Elverfeld, die die Ländereien des Hauses Berghoven damals durch Pächter bewirtschaften ließen, und dem Schwerter Forst unserer Nachbarstadt. Von den im „Berghofer Wanderbuch“ von 1992 auf Seite 14 erwähnten drei Grenzsteinen wurde vermutlich einer gestohlen, so dass heute nur noch zwei von ihnen anzutreffen sind (Wegbeschreibung auf den Seiten 5 und 6).
Glatte 125 Jahre nach dem Datum der Berghofer Grenzsteine und fünf Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkrieges war Berghofen Grenzort der streng bewachten Art. An einem Schlagbaum mit Drahtverhauen gab es Ausweiskontrollen, Passierscheine für Menschen und Tiere sowie Gepäckkontrollen und Leibesvisitationen! Was war passiert? Im Jahre 1923 stellten die Belgier und Franzosen fest, dass Deutschland seine Verpflichtungen aus dem Versailler Vertrag in Form von Holz- und Kohlelieferungen nur unzureichend erfüllt hatte, und es kam zu einer Besetzung des Ruhrgebietes. Die Ruhrgebietsgrenze war damals identisch mit der Grenze zwischen Berghofen und Schwerte und die Kontrolle am Schlagbaum an der Kreuzung Wittbräucker/Berghofer Straße bei der Gastwirtschaft Gockel (heute ist das die „Pfeffermühle“) wurde von französischen Besatzungstruppen bis zum August 1925 durchgeführt. Die Offiziere waren im katholischen Pfarrhaus einquartiert und Tag und Nacht patrouillierte eine Wache auf dem Kirchplatz, wie der damalige Pfarrer Bruns in der Gemeindechronik berichtet. Ein französischer Divisionspfarrer feierte sogar mit hohen Offizieren bis hin zu Generälen eine Messe mit Chorbegleitung in der St.-Josephs-Kirche. Der frühere Dortmunder Stadtheimatpfleger Dr. Ingo Fiedler erzählt in seiner Aufsatzsammlung „Aus Berghofens Vergangenheit“ (1994), wie ein Dortmunder Kaufmann die Besatzer bei der Grenzkontrolle auszutricksen wusste (S. 56).
Nach diesem deutsch-französischen Intermezzo in unserem 12.000-Einwohner-„Dorf“ Berghofen in der Nachinflationszeit gab es leider Gottes nach 1870/71 und 1914/18 noch einmal eine blutige kriegerische Auseinandersetzung im Zweiten Weltkrieg (1939/45) zwischen den angeblichen „Erzfeinden“. Dank großer Europapolitiker wie de Gaulle und Adenauer (1958/1963) und in der Nachfolge über Mitterand und Kohl (1984 in Verdun) bis hin zu Macron und Merkel (2017) dürfen sich Franzosen und Deutsche inzwischen Gott sei Dank als junge und hoffentlich auch dauerhafte „Erbfreunde“ betrachten und sich dank Schengen freizügig und grenzenlos hüben und drüben begegnen.
Dieter Tillmann